Schwebende Achsen, öllose Naben

Technische Raffinessen und niedrige Produktionskosten waren das Erfolgsgeheimnis der Brennabor-Werke. Mit welchen Innovationen das Unternehmen seine Kund*innen überzeugte, schildert dieser Beitrag.

Kinderwagen im eigentlichen Sinne, also Gefährte, die ausschließlich der Beförderung von Kleinkindern dienten, kamen in den deutschen Ländern erst in den 1850er-Jahren in Mode. Im „Herkunftsland“ dieser Erfindung, Groß Britannien, war schon 1840 ein dreirädiger Schiebewagen für Kinder auf den Markt gekommen. Die Ursprünge der deutschen Kinderwagenherstellung liegen in Zeitz (heute Sachsen-Anhalt), doch auch die Brandenburger Familie Reichstein kann zu den Pionieren dieses Gewerbes gezählt werden. Innerhalb weniger Jahre entwickelten sie ihr kleines handwerkliches Familienunternehmen zu einem der größten Kinderwagenproduzenten Deutschlands. Die Basis dieses Erfolges war eine Mischung aus Erindungsreichtum und niedrigen Produktionkosten. Am Ende des 19. Jahrhunderts, in den Anfangsjahren der Kinderwagenproduktion, setzten die Firmengründer Adolf, Carl und Eduard Reichstein vor allem darauf, dass ihre Produkte günstiger zu haben waren, als die der Konkurrenz. Vor allem Carl Reichstein war sehr erfindungsreich, wenn es darum ging die Produktionskosten niedrig zu halten. Eine ausgeklügelte Arbeitsteilung ermöglichte es, vor allem ungelernte und angelernte Arbeitskräfte zu beschäftigen, die wesentlich weniger Lohn bekamen, als die Facharbeiter.  Ob sich die Reichstein-Brüder ihre „Rationalisierungen“ patentieren ließen, ist nicht bekannt, beworben wurden sie jedenfalls nicht. Geringe Löhne und lange Arbeitszeiten wären sicher auch nicht sehr werbewirksam gewesen.

Nach dem auch andere Hersteller von der handwerklichen Herstellung zur industriellen Produktion übergegangen waren, reichte das Argument des günstigen Preises nicht mehr aus. Die Reichstein-Brüder erkannten dies frühzeitig und hoben nun auch die Qualität und die Gestaltung ihrer Kinderwagen hervor. Gleichzeitig gab das Unternehmen sein Kunden aber auch „vernünftige Argumente“ an die Hand. Jetzt kamen die Erfindungen aus dem Hause Brennabor ins Spiel. Bessere Federungen, neue Verdecke und Sturmstangen wurden herausgestellt. Die Mitbewerber machten das Rennen mit und mussten in jeder neuen Saison mit Neuheiten aufwarten, auch wenn sich deren Zusatznutzen bei näherem Hinsehen als eher fraglich erwies. Da alle Firmen ständig neue Patente präsentieren wollten, bezogen sich die Anträge auf Musterschutz bald auf kleine Details. Nachdem beispielsweise ein Patentantrag des jüngsten Bruders Eduard auf das „abnehmbare Verdeck“ abgelehnt worden war, ließ man sich wenigstens eine Maschine patentieren[1].

Klappkinderwagen

Eine wirkliche Neuerung mit lang anhaltender Wirkung war der Klappkinderwagen, für den die Reichstein-Brüder schon 1913 Patentschutz beantragten. Im Jahr darauf war der Brennabor-Klappkinderwagen erhältlich. Der Wagen wurde immer wieder überarbeitet und in verschiedenen Versionen angeboten. Einen Aufschwung erlebte das Geschäft durch die langsam beginnende Motorisierung der Bevölkerung, denn der Klappwagen ließ sich einfach im PKW unterbringen. Bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges und den damit verbundenen Produktionseinschränkungen, blieben die Klappwagen Verkaufsschlager.

  Verdecke und Sturmstangen

Schon in einem frühen Katalog aus dem Jahr 1896 werben die Reichstein-Brüder für ihre „Patent-Verdecke mit verstellbaren Gardinen“, für „Patent-Sturmstangen“ und „patent-amtlich geschützte Arabfeder-Gestelle“: „An Stelle der alten faltigen Verdecke mit Weidenbügeln schufen wir solche sauber und glatt auf patentirte Formen gearbeitete mit Bügeln aus massiv gebogenem Holz. Mit eisernen Charniren und Sturmstangen. Epochemachend wirkten später unsere patentirten abnehmbaren Verdecke, sowie die von uns contruirten Stahlräder mit Eisennabe und Holzfelge.“

Handhabung der Sturmstangen, Katalog 1910

Die Sturmstangen sind eines der zentralen Objekte für die Patent-Tüfteleien im Hause Brennabor.  Das liegt nahe, sind sie doch ein wichtiges Gestaltungselement der Wagen. 1931 ist es wieder Zeit für eine neue Sturmstange und im Katalog finden wir die typische Verknüpfung von optischen und technischen Vorzügen der Neuerung: „Die bisher allgemein bekannte Sturmstange war der Entwicklung des Kinderwagens in keiner Weise gefolgt. Ihre Form wirkte auf die sonst maßgebliche Linienführung des Wagens und seine Ausrüstung direkt störend. Unsere neue Sturmstange paßt sich nunmehr ebenfalls den Linien des modernen Wagens glücklich an und erzielt damit auch äußerlich so auffallend günstige Wirkungen, daß der Brennabor-Wagen deshalb fraglos bevorzugte Beachtung des Käufers finden wird. Neben der äußeren Wirkung bietet aber die neue Sturmstange ganz besondere technische Vorzüge.
Zunächst dient das Kugelgelenk (D.R.Pat. ang.) zum Ausgleich der verschiedenen Spannungen, denen das Gewebe des Ledertuches durch Witterungseinflüsse ausgesetzt ist, und gewährleistet dadurch jederzeit leichteste Handhabung des Verdeck bei sauberster Spannung desselben. Dem Feststellen der Sturmstange in verschiedenen Lagen dient ein Arretierschloß (ebenfalls D.R.Pat. ang.), welches an der Drehstelle der Schenkel eingebaut ist […]“

Eine weitere Neuerung war ab ca. 1934 die Verwendung verchromter Teile. Möglicherweise wurden dafür die Anlagen weitergentzt, die nach dem Ende der Autombilproduktion nicht mehr benötigt wurden. Auch an anderer Stelle finden sich Verweise auf diesen gescheiterten Produktionszweig, so wurden die Sturmstangen der neuen Modelle nach der Vorlage der Cabrio-Sturmstangen der Brennabor-Automobile gestaltet. Sogar das ehedem auf den Kühlern befindliche Logo fand Verwendung.

Die verchromten Sturmstangen der 1930er, rechts unten Version von 1910

Staubgeschützt und öllos – die Naben

Der Katalog von 1931, der die verschromten Sturmstangen anpreist, weist auch schon auf eine wesentliche Neuerung an einem anderen „neuralgischen Punkt“ eines jeden Kinderwagens hin: Die Radnabe. Im Jahr 1931 kommt eine verbesserte, staubgeschützte Nabe auf den Markt, die eigentlich revolutionäre Neuerung folgt 1935 – das Öllos-Lager, das von diesem Zeitpunkt bis zur Stilllegung der Produktion 1945 im Angebot bleiben wird. Mit diesem Lager war eine große Erleichterung für die Nutzer*innen des Wagens verbunden, denn das aus der alten Naben austretende Öl war eine stete Verschmutzungsquelle.

Die alte Nabe: Austretendes Öl verschmutzte die Kleidung

In den 1930er-Jahren wandelte sich zum ersten Mal das Erscheinungsbild der Kinderwagen grundlegend. Die hohen Speichenräder verschwanden und der gesamte Wagenkasten wurde abgesenkt. Diese Änderungen vollzogen sich auch bei den Puppenwagen.

Noch Anfang 1939 versprach der Kinderwagen-Katalog „Brennabor bringt stets Neuheiten“. Schwebeachsen und Wäschefach, neue Farben und weitere Raffinessen sollten die Kund*innen zum Kauf anregen. Der mit dem deutschen Überfall auf Polen ausgelöste Zweite Weltkrieg brachte allerdings sofort Einschränkungen bei der Materialverfügbarkeit mit sich. Die Brennabor AG sah sich genötigt, ihren Geschäftspartner*innen mitzuteilen, dass nur noch bestimmte Modelle und Mengen lieferbar seien. Die Brennabor AG verdiente zu diesem Zeitpunkt bereits am Krieg, seit 1936 wurden in der Tochterfirma Havelwerk GmbH Waffen für das nationalsozialistische Aufrüstungsprogramm hergestellt.

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Brennabor ausgebrannt

In der Rüstungsproduktion lag bereits der Keim der Zerstörung des Unternehmens. Nicht nur dass die Fabrikanlagen an der heutigen Geschwister-Scholl-Straße im Zuge der Befreiung Brandenburgs an der Havel stark zerstört wurden, als Rüstungsbetrieb der zudem Zwangsarbeiter*innen ausgebeutet hatte, wurden die Maschinen Anlagen der Havelwerk GmbH und der Brennabor AG demontiert und enteignet.

Aus der kurzen Phase der Nachkriegsproduktion unter dem Dach des VEB Kinderwagenbau Brandenburg sind keine Innovationen bekannt. Es ist eher anzunehmen, dass dieser Betrieb lediglich die Restbestände der Brennaborwerke montierte, bevor er 1955 dem VEB Zeitzer Kinderwagen (ZEKIWA) angegliedert wurde.

Beschriftung an einem Kinderwagen aus dem Jahr 1950

[1] Zahlreiche Patentanträge kann man online beim Deutschen Patent- und Markenamt einsehen: http://www.dpma.de/